Wie der Glücksbringer beinahe zum Burgherren wurde

Das Wesen meines Glücksbringers war einnehmend, seine Rede glatt, seine Art zu argumentieren von bestechender Logik. Heute weiß ich, dass es diese Präzision der Beinahe-Wahrhaftigkeit war, mit der er mich überzeugte. Was er mir sagte? Nun, im Prinzip war es ganz einfach: Ob ich eigentlich wisse, was meine Räume wirklich beherbergten. Er sei schon auf vielen Burgen gewesen, und immer wieder sei es das Gleiche, dass nämlich die Räume noch viel mehr zu bieten hätten, als in dem gleißenden Licht überhaupt zu erkennen sei. Man müsse das Licht nur ein wenig, nur ein ganz klein wenig zurücknehmen, – und schon würden sich Dinge zeigen, von denen ich nie gedacht hätte, sie unter meinem Dach zu finden. Dinge, die das Leben auf eine neue Art erfreuen würden, die Abwechslung bringen würden, Heiterkeit und Lebensfreude, die neue Dimensionen eröffneten.

Das klang einerseits logisch, andererseits verführerisch. Wie, wenn es wirklich so war? Konnte ein kleiner Versuch, in einer winzigen Ecke, tatsächlich schaden? Mein Besucher – mein Versucher – hatte mich überzeugt, es einmal mit ihm zu probieren. So ließ ich ihn ein. Und damit fing alles an.

Ich will versuchen, mich kurz zu fassen. Wir suchten ein schönes Erkerzimmer aus, das uns weiß-golden entgegen leuchtete. „Nimm das Licht ein wenig zurück“, sagte mein Gast, „und ich zeige dir Dinge, die du jetzt noch nicht ahnst.“ Und so geschah es. (Später erst wurde mir klar, dass er das Licht, das ich drosselte, an sich nahm.) Mit dem Rückgang der Helligkeit erschienen – zuerst schemenhaft, dann immer klarer – Bilder in satten Farben, Szenen, die mich im Mittelpunkt zeigten, Menschen tauchten auf, unterwürfig und ergeben. Die Macht hatte den Raum betreten, und sie herrschte in vielerlei Facetten, ich herrschte durch sie und mit ihr. Ich war fasziniert, fühlte mich auf eine nie gekannte Weise überlegen, genoss die Augenblicke, bis mich mein Begleiter aus meinem Rausch zurückholte und mich fragte, ob ich das eben Erlebte in diesem Raum vermutet hätte. Die Frage erübrigte sich eigentlich, und er wusste es auch; doch er zwang mich damit zu der Gegenfrage: „Beinhaltet jede Halle, jeder Raum eine andere Welt, von der ich bisher nichts wusste?“ Er lächelte, ein wenig hintergründig, wie mir schien: „Wir werden so viele Welten finden, wie du magst. Es ist lediglich eine Frage, wie weit du dein Licht in den jeweiligen Zimmern zurücknehmen möchtest.“

Ich wollte und er auch – aus Freundschaft, wie er sagte.

Er kam von diesem Tag an regelmäßig. Manchmal wartete ich schon ungeduldig auf ihn. Es dauerte auch gar nicht mehr lange, und ich brauchte ihm den Zugang zu mir nicht mehr extra zu ermöglichen; Er kam von allein herein, weil – wie mir erst später klar wurde – das inzwischen verringerte Licht an den Türen und Toren für ihn kein Hindernis mehr war. Überhaupt änderte sich, ohne dass ich es merkte, so manches in unserer Beziehung. Bat er zu Anfang noch höflich um Einlass, so fragte er schon bald nicht mehr. Er war plötzlich da, ob es mir passte oder nicht. Meistens allerdings passte es mir, denn er hatte mir Welten erschlossen und – zweifelhafte (wie sich später herausstellte) – Freuden vermittelt; die mir ohne seine Hilfe nie zugänglich gewesen wären.

Was verbarg sich nicht alles in mir? In den unzähligen Räumen meines Inneren gab es nichts, was sich die Phantasie nicht vorstellen, und nichts, was nicht gelebt werden konnte. Ich wurde zum Entdecker immer neuer, bis dahin verborgener Geheimnisse. So erschlossen wir gemeinsam meine Burg – mich selbst – und legten gemeinsam in die unzähligen Kammern neue Inhalte.

Das ging lange, lange gut, bis ich eines Tages merkte, dass irgendetwas nicht mehr stimmte. Es war der Moment, von dem ich heute weiß, dass er die Phase der Ernüchterung und der schmerzlichen Erkenntnis einleitete.

Meine Mauern waren rissig geworden, feucht und moderig viele Räume. Unrat häufte sich in vielen Ecken an; das Feuer in meinem Innenhof war so klein geworden, dass es kaum noch wärmte und nur mühsam die allernächste Umgebung erhellen konnte. Meine Burg war in ein unheimlich wirkendes Zwielicht getaucht; einige Räume waren stockdunkel, andere wenige besaßen noch einen Teil ihres ehemaligen Leuchtens. Das Leben in meinen Mauern war stumpf geworden.

Mein Gast, den ich schon lange nicht mehr als meinen Freund, sondern als einen unliebsamen und aufdringlichen Störenfried betrachtete, hatte sich in meiner Burg häuslich eingerichtet. Und mit ihm viele ähnlich dunkle Gesellen.

Es gab auch kein Versteckspiel mehr. Der Finsterling hatte seine Tarnkappe längst abgenommen. Er musste sich ja auch nicht mehr fürchten! Vor wem auch. Vor mir, also dem, der lichtarm und kraftlos dadurch geworden war, dass er selbst und freiwillig die Dunkelheit in sein Haus ließ?

Ich erschrak bei diesen Erkenntnissen. So hatte ich mir das nicht gedacht. Ich begann zu rebellieren. Es war eine Rebellion, die wenig brachte. Er wusste das auch. Das einzige, mit dem ich hätte gegen ihn etwas ausrichten können, wäre die Kraft des Lichtes gewesen. Doch davon strahlte in mir nicht mehr genug. War ich nun auf alle Ewigkeit meinem Hausbesetzer ausgeliefert?

Nach wie vor – wenn auch jetzt reduziert – war das Feuer in meinem Inneren, dem einstmals herrlichen Innenhof, da. Es brannte, ob ich es beachtete oder nicht. Da kam die Zeit, dass ich mich immer öfter an diese Quelle des Lichtes setzte.

Ich sehnte mich nach der Zeit der Herrlichkeit und Freiheit zurück. Wenn ich mich zu diesem Licht begab, ließ der Finsterling ab, mich zu bedrängen. Doch nicht nur, dass er mich in Ruhe ließ, ich bemerkte, dass er das Licht fürchtete und auch mich, wenn ich diesem Licht nahe war.

„Warum zögerst du noch?“ hörte ich eines Abends am Feuer die Stimme des Lichtes. „Wann nimmst du den Kampf auf?“ „Ich allein gegen die Finsternis?“ Ich hatte die Frage mehr gedacht als gesprochen, dennoch kam sofort die Antwort: „Du bist nicht allein. Ich gebe dir das Licht, das du brauchst. Geh mit mir, und ich kämpfe mit dir.“

Was bewegte sich in mir nach dieser Zeit der falschen Freunde und Freuden, des Überdrusses, der Schalheit, der Einsamkeit, der Bedrückung? Waren es Dankbarkeit, Erleichterung, neue Hoffnung und neuer Mut, auch Angst und Zweifel, ob ich es schaffen würde? Von allem war etwas dabei, und der feste Entschluss, wieder Herr in meinem eigenen Haus zu werden. Gab es die Freiheit noch, die ein Teil von mir selbst gewesen war? Ich willigte ein – und so begannen wir unsere gemeinsame Arbeit.

Soll ich sagen, dass es leicht war? Ja und nein – ja, weil ich das Licht  als die überlegene Kraft bei mir trug und erlebte – und nein, weil ich oftmals auf starken Widerstand stieß. Es galt, in jeden Raum hineinzuleuchten. Und das war wohl das Schwierigste an der Sache. Das Licht ließ mir den freien Willen. Ich konnte entscheiden, einen Raum im Dunkeln zu lassen oder ihn zu erleuchten. Dazu musste ich jedoch wissen, was sich in ihm verbarg. Hatte ich es mir angeschaut, hatte ich mich für die Helligkeit und gegen das Dunkel entschieden und damit gegen all das, was sich eingenistet hatte, seine Daseinsberechtigung geltend machte und mir oftmals als angenehm und bequem, lieb und wert geworden war – und hatte ich damit begonnen, zuerst die finsteren Ecken und dann das ganze Zimmer auszuleuchten, passierte es nicht selten, dass der „Glücksbringer“ erschien, getarnt wie früher, um mich davon zu überzeugen, dass doch gerade dieser Raum alle Herrlichkeiten der Erde zu bieten hat. Ab und zu gelang ihm das auch, doch mit zunehmender Helligkeit konnte ich ihn und seine Absicht immer besser erkennen. Er sah wohl ein, dass er das Spiel verlieren würde. Ihm war klar, dass er gegen das Licht nicht die geringste Chance hat – wohl aber gegenüber demjenigen, der sich des Lichtes nicht bedient, obwohl es ihm zur Verfügung steht.

Er hatte tatsächlich keine Chance, und so zog er sich nach vielen Auseinandersetzungen, bei denen ich mehr und mehr gewann, schließlich wieder in die Niederungen der Täler zurück, dort lauernd auf den Nächsten, der ihn einlässt. Von dort aus kann er auch, wenn er mag, auf die Burg blicken, die er räumen musste und die jetzt wieder in dem Licht erstrahlt, das einst der Ausdruck ihres wahren Wesens war. Das Feuer im Innenhof hat die alte Leuchtkraft wieder gewonnen – ganz verlöschen, das hatte ich schon erwähnt – kann es ohnehin nicht. Friede liegt wieder über dem Land. Der Kampf, der mit so  ungleichen Waffen geführt wurde, ist beendet. Wie er ausgehen würde, wie all diese noch stattfindenden Kämpfe ausgehen werden, stand und steht seit unendlicher Zeit fest; Das Licht wird siegen, es muss siegen, weil es so im Gesetz selbst festgelegt ist. Es wird auch die Täler erreichen und auch dort die Dunkelheit in Licht verwandeln – weil die Dunkelheit sich freiwillig dem Licht ergeben wird.

Das alles entstand vor meinem Auge, als ich die Burg erblickte. Und ich wurde erinnert an die Herrlichkeit, den machtvollen Glanz, das Unbezwingbare, das Gütige, Friedvolle, das in jedem von uns liegt.

Ich weiß, wir alle werden es wieder erfahren und das um so verstärkter, je mehr sich der Kampf seinem Ende zuneigt. Im Grunde ist er schon entschieden. Denkst du auch so darüber?

(aus einer Erzählung von Benjamin Sonntag aus: „Der Christusstaat“ 10/90, Verlag Universelles Leben, Würzburg)

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