Die glückliche Trauerweide
Erwin Moser
Da war ein seichter See in einer weiten Ebene. Rings um den See wuchsen die verschiedenartigsten Pflanzen: schlanke Gräser, üppige Stauden, buschige Sträucher, würzig duftende Kräuter, aber keine einzige Blume. Blumen gab es in dieser Gegend nicht.
Vor langer, langer Zeit, als es noch keine Menschen gab, passierte diese Geschichte.
Alle Pflanzen rund um den See fühlten sich sehr wohl. Der Boden war feucht. Sie hatten immer genug zu trinken. Die Sonne schien auf sie nieder, und ab und zu gab es einen erfrischenden Regen.
Eines Tages kam der Wind über die Ebene geblasen und brachte den Pflanzen eine schlimme Nachricht: „Gebt acht, ihr grünen Zwerge;“ rief er, „es kommt bald eine große Trockenheit in eure Gegend. Ich hab` sie gesehen und gespürt. Sie liegt dort hinten, hinter den Bergen, im Westen. Alle Pflanzen sind dort innerhalb kürzester Zeit zugrunde gegangen. Nehmt euch in Acht. Ich warne euch. Die Dürre wird auch hier vorbeikommen. Streckt eure Wurzeln in die Erde hinunter. Auch wenn das sehr anstrengend sein sollte: nur so werdet ihr überleben. Grabt hinunter zum Grundwasser. Dort kann die Dürre nicht hin“ Doch die Pflanzen lachten nur. „Wozu sollen wir uns so anstrengen?“ sagten sie zum Wind. „Uns kann nichts passieren. Siehst du den großen See, diese riesige Wasserfläche? Da kann eine noch so schreckliche Dürrezeit kommen, wir werden immer genug zu trinken haben!“ Ein scharf riechendes Kraut rief gar: „Glaubt ihm nicht, der Wind ist ein Schwindler, ein windiger Tagedieb! Das mit der Dürre hat er sich bloß ausgedacht, um uns zu erschrecken. Solange ich lebe, hat es noch keine Dürre gegeben. Und ich bin länger hier als alle anderen, wie ihr wisst. Das ist doch nur so eine Schauergeschichte. Lasst euch nicht verunsichern!“ „Denkt, was ihr wollt,“ sagte der Wind „ich habe euch jedenfalls gewarnt.“ Mit diesen Worten zog er weiter.
Die Pflanzen rund um den See vergaßen schnell die Warnung des Windes. Ihr Leben ging weiter. Alle hatten es gemütlich, die Sonne schien, der Boden war saftig wie eh und je.
Nur eine Pflanze hatte sich die Worte des Windes zu Herzen genommen. Sie wuchs etwas abseits von den anderen, auf kargem, steinigem Boden, den keines der anderen Gewächse als Standort haben wollte. Doch diese Pflanze war genügsam und bescheiden. Sie besaß dünne gelbe Zweige, gelb, wie der Sand, auf dem sie wuchs. Und ihre Blätter waren klein und schmal. ,Der Wind hat vielleicht doch die Wahrheit gesagt.`,dachte die gelbe Pflanze, Ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns so einfach belügt. Ich werde versuchen, ob ich meine Wurzeln tiefer bohren kann. Was kann`s schon schaden? Vielleicht finde ich dort unten bessere Nahrung… Ich mach`s !´
Und von diesem Tag an schickte sie ihre Wurzeln immer tiefer in den Boden. Sie arbeitete mit ihrer ganzen Kraft, und ihre Zweige und Blätter wurden noch unscheinbarer, so sehr strengte sie sich an. Je tiefer ihre Wurzeln kamen, desto fester und trockener wurde die Erde. Aber die gelbe Pflanze gab nicht auf. Die anderen Gräser und Stauden ahnten nichts von ihren Bemühungen, sie beachteten die gelbe Pflanze weiterhin nicht.
Wochen vergingen. Eines Tages spürte die gelbe Pflanze, wie die Erde immer lockerer wurde. Sie hatte mittlerweile schon sehr, sehr tief hinunter gegraben. Jetzt wurde sie neugierig, verstärkte ihre Anstrengungen und plötzlich griffen ihre Wurzeln in köstliches, frisches Erdreich. Sie hatte eine unterirdische Quelle gefunden, und das Wasser dieser Quelle schmeckte herrlich frisch und belebend. Glücklich begann die Pflanze zu trinken. Sie trank und trank und fühlte sich immer kräftiger. Vergessen waren die vergangenen Wochen mühsamer Grabearbeit! Und je mehr sie von dieser unterirdischen Quelle trank, desto größer wurde die Pflanze. Sie begann zu wachsen. Ein Stamm bildete sich, der schnell dicker und höher wurde, und auch ihre Zweige wuchsen immer weiter in den Himmel.
Die anderen Pflanzen merkten zunächst gar nichts von der wunderbaren Veränderung der gelben Staude. Doch als sich der Stamm und eine breite Krone zu formen begannen, wurden sie aufmerksam. „Seht, was mit dem gelben Kraut passiert,“ riefen sie sich zu. „Ein Wunder! Es wird immer größer. Was ist los mit dir? Wie machst du das?“ „Ich habe meine Wurzeln tief in den Boden gestreckt, wie der Wind es geraten hat.“ erwiderte die gelbe Pflanze. „Ganz tief unten ist eine köstliche Quelle. Die schmeckt wunderbar. Ich fühle mich wie neu geboren.“
Die Neuigkeit von der unterirdischen Quelle sprach sich schnell herum. Alle Pflanzen um den See gerieten in große Aufregung, und sie begannen ebenfalls, ihre Wurzeln in die Tiefe zu schicken. Sie wollten genauso groß und schön werden wie die gelbe Staude. Aber sie hatten nicht die Geduld und Ausdauer der gelben Pflanze. Die Arbeit wurde ihnen bald zu sauer, und eine nach der anderen gab auf.
„Da unten ist nichts“, sagten sie, „nur trockene, feste Erde. Es ist alles ein Schwindel!“ Und sie zogen ihre Wurzeln zurück. „Ihr müsst eben tiefer graben“, sagte die gelbe Pflanze, die sich inzwischen zu einem stattlichen Baum ausgewachsen hatte, „ganz, ganz tief müsst ihr graben!“ Doch die Pflanzen wollten nichts mehr davon wissen.
Der Baum wuchs und wuchs. Er hatte einen kerzengeraden Stamm bekommen, und seine dünnen und gelben Zweige ragten ebenso gerade in den Himmel. Er war ein prachtvoller Baum mit einer duftenden Blätterkrone. Die Pflanzen um den See begannen ihn immer mehr zu beneiden. Am Anfang versuchten sie, ihn nicht zu beachten. Sie redeten nicht mehr mit ihm. Doch sie mussten ihn einfach ansehen, so schön war er. Und der Neid nagte nur noch stärker an ihnen, bis er eines Tages in offene Feindschaft umschlug.
„Was bildet der sich eigentlich ein?“, begann eine dunkelgrüne Staude, die früher die größte Pflanze am See gewesen war, „bläht sich da auf zu einem monströsen Gewächs. Glaubt wohl, etwas Besseres zu sein als wir?“ „Ja“, pflichteten ihr die anderen Pflanzen bei, „in Wirklichkeit ist er nur ein mickriger Busch, ein saftloses, hässliches gelbes Ding.“ Und ein kaktusähnliches Gewächs rief: „Größenwahnsinnig ist er geworden! Eine Gefahr für uns alle. Ihr werdet sehen, demnächst will er, dass wir ihn anbeten! Eine Schande ist das. Schaut nur, wie er seine ekelhaften gelben Zweige weg spreizt! ,Pfui` und nochmals ,pfui´!“
Als der Baum das hörte, erschrak er bis in die Wurzeln. „Ihr tut mir Unrecht!“, rief er. „Ich halte mich keineswegs für etwas Besseres als ihr. Ich will weiterhin euer Freund sein. Alles, was ich getan habe, war, tief in den Boden zu graben. Und es hat mich viel Mühe gekostet. Wie ich geworden bin, ist das Ergebnis langer, harter Arbeit. Aber ich fühle mich deshalb nicht als euer König oder ähnliches. Wir sind alle gleichwertige Pflanzen, und ihr habt die gleichen Möglichkeiten wie ich.Grabt auch hinunter zu der Quelle, und ihr werdet auch Bäume werden. Es ist ein herrliches Gefühl, Baum zu sein, und es lohnt sich, jede Anstrengung dafür in Kauf zu nehmen!“ Doch die Pflanzen schimpften daraufhin nur noch mehr. Die Anwesenheit des Baumes ärgerte sie und schmerzte sie, denn sie wurden durch seine Pracht andauernd an ihr Versagen und ihre Unfähigkeit erinnert. Ihn mit Worten klein zu machen, gab ihnen ein Gefühl von „Größe“ und „Wichtigkeit“.
So ging das tage- und wochenlang. Sie hassten den Baum und beschimpften ihn unentwegt. Der Hass machte ihre Säfte bitter und ihre Zweige und Blätter verfärbten sich giftgrün und schwefelgelb. Sie wurden immer hässlicher und sahen immer kränker aus.
Aber auch mit dem Baum ging eine Veränderung vor sich. Er wurde traurig. Seine langen Zweige neigten sich der Erde zu, hüllten seinen Stamm ein wie ein grüner Trauerschleier. Durch die andauernden Beschimpfungen, die er sich hatte anhören müssen, kam er sich nun hässlich vor, und er fühlte sich an der schrecklichen Entwicklung der Dinge schuldig. Am liebsten wäre er wieder auf seine ursprüngliche Größe zusammengeschrumpft, um seine Ruhe zu haben. Doch das ging nicht. So ließ er seine Zweige hängen, traurig und in sich gekehrt.
Dann kam die Dürre, die der Wind angekündigt hatte. Sie war furchtbar und dauerte zwei Jahre lang. Die Sonne brannte erbarmungslos. Der See trocknete aus, und alle Pflanzen in der Ebene starben. Nur der Baum überlebte diese Zeit, noch trauriger als je zuvor. Er hatte seine Wurzeln in der unterirdischen Quelle, und die hielt ihn am Leben.
Nach zwei Jahren hörte die Dürre nach und nach auf. Es begann viel und oft zu regnen, und bald war auch der See wieder da. Und eines Tages kam der Wind wieder in diese Gegend. Er sah den See und den traurigen Baum und das kahle Land ringsum. Und er wusste, was vorgefallen war. ,Nur eine Pflanze hat auf mich gehört.`, dachte der Wind, und er war voller Mitleid, als er sah, wie traurig der Baum seine Zweige hängen ließ. Dann hatte der Wind eine glänzende Idee. So schnell er konnte, sauste er tief in den Süden, wo er auf seinen weiten Reisen ein Land kennen gelernt hatte, in dem viele wunderschöne lustige Pflanzen wuchsen. Er sammelte Samen aller dieser Pflanzen ein und blies sie den ganzen Weg zurück. Rings um den See und den Baum ließ er sie zu Boden fallen, wo sie augenblicklich zu keimen und zu wachsen anfingen. Dann verwandelte sich der Wind in warme Luft und wartete schmunzelnd ab, was passieren würde. Nach wenigen Wochen war der See von einem duftenden, blühenden Blumenmeer umgeben, und der Baum stand mittendrin. Das war ein fröhliches Geplapper! Lustige, heitere Wesen waren sie, die Blumen aus dem Süden, und genauso sahen sie auch aus. Der Baum bemerkte die wunderliche Veränderung und… bekam Angst.
,Jetzt fängt alles wieder von vorne an`, dachte er. ,Ich wünschte, ich könnte sterben, denn ein zweites Mal möchte ich das nicht mehr durchmachen.`
Die Blumen redeten ihn an: „Warum sprichst du nie etwas, Baum?“,fragten sie. „Lasst mich“, sagte der Baum, „ich weiß, ich bin hässlich mit meinen hängenden Zweigen, und dass ich um so vieles größer bin als ihr, tut mir schrecklich leid.“ „Aber was redest du da?“, riefen die Blumen. „Du bist wunderschön. Das Schönste an dir sind gerade diese langen hängenden Zweige. Und dass du so groß bist, braucht dir nicht Leid zu tun. Wie kommst du überhaupt auf so komische Gedanken? Wir bewundern dich wegen deiner Größe und Schönheit.“ „Meint ihr das im ernst?“sagte der Baum hoffnungsvoll. „Es macht euch also nichts aus?“ „Wir lieben dich.“,riefen die Blumen lachend. „Erzähl` uns deine Geschichte!“ Da war der Baum unendlich glücklich, und er erzählte den Blumen von der unterirdischen Quelle, die ihn zum Baum gemacht hatte und von den Pflanzen, die ihn verspottet hatten.
Viele der Blumen senkten daraufhin ihre Wurzeln ebenfalls in die Tiefe, und die meisten von ihnen erreichten die unterirdische Quelle. Aus ihnen wurden kräftige Bäume. Einige andere gruben nicht so tief, sie wurden Büsche und waren zufrieden damit. Und die Lustigsten blieben Blumen. Keiner aber beneidete den anderen um seine Größe und seine Gestalt. Gerade das, was sie selbst nicht hatten, liebten und bewunderten sie an dem anderen. Es war ein Wald entstanden. Der Wind lächelte in sich hinein und zog weiter.
Viel später gaben die Menschen den Bäumen mit den hängenden gelben Zweigen den Namen „Trauerweide“.