Der Weihnachtsbaum
Neuengland liegt an der Atlantischen Küste im Norden der Vereinigten Staaten Es ist eine sehr bewaldete Gegend, und die Häuser stehen im Schatten großer Baumkronen, was besonders in den heißen Sommermonaten angenehm ist. Natürlich sind die meisten Häuser aus Holz gebaut und fügen sich harmonisch in die Landschaft ein.
In der rauen Winterzeit sieht es jedoch anders aus. Dann geschieht es oft, dass ein heftiger Orkan von der Seeküste landeinwärts bläst. Er kann viel Schaden anrichten. Große Bäume können entwurzelt werden und beschädigen dann Hochleitungen, wobei Strom- und Telefonversorgungen oftmals für viele Tage unterbrochen werden.
Es war nach einem solchen Sturm, der die sichtbaren Spuren seines großen Zerstörungswerkes überall in unserer Umgebung hinterlassen hatte. Wir saßen alle bei meinem Nachbarn im Wohnzimmer und besprachen, noch aufgeregt, die Ereignisse der letzten Stunden. Durch die großen Fenster des Holzbungalows sah man überall die heruntergefallenen dicken Äste und Zweige liegen. Das Haus meines Nachbarn liegt direkt im Wald. Es hat keine künstlich angelegten Rasenflächen oder Blumenbeete. Alles ist naturbelassen. Das Laub wird nicht geharkt und das Unkraut nicht gezupft. Mein Nachbar hat ein tiefes Verständnis für die Natur und will ihr nicht seinen Willen aufzwingen
Kopfschüttelnd saß er in seinem Sessel und konnte immer noch nicht glauben, was geschehen war. „Es gibt also noch Wunder!“, sagte er nach einer Weile und erzählte uns dann die folgende Geschichte:
Es war vor vielen Jahren, so fing er an, als seine Kinder noch klein waren. Da wollten sie unbedingt zu Weihnachten einen Tannenbaum haben. Die Familie meines Nachbarn ist jedoch jüdisch, und Weihnachtsbäume waren durchaus nicht Bestandteil ihrer Tradition! Da jedoch all die anderen Nachbarskinder Weihnachtsbäume hatten, gaben die Eltern dem Betteln ihrer Kinder nach und versprachen ihnen einen Weihnachtsbaum.
Kurz vor dem Christfest ging mein Nachbar mit Axt und Kindern in den Wald, um sich einen Weihnachtsbaum auszusuchen. Sie brauchten nicht lange, bis sie eine schöne Tanne gefunden hatten. Sie war nicht sehr groß, aber sie hatte einen auffallend ebenmäßigen Wuchs.
„Ich wollte sie gerade mit der Axt umhauen“, erinnerte sich mein Nachbar, „als ich erst richtig spürte, w i e schön dieser kleine Baum eigentlich war. Irgendetwas hielt mich ab, ihn umzulegen. Es war ein ungewöhnlich warmer Winter, und der Boden war noch nicht festgefroren. So entschloss ich mich, ihn auszubuddeln, um ihn nach dem Weihnachtsfest dicht bei meinem Haus wieder einzupflanzen. Wenn ich im Voraus gewusst hätte, wie groß die Wurzel für den verhältnismäßig kleinen Baum war, hätte ich es vielleicht gar nicht erst angegangen. Es hat Stunden und viel Schweiß gekostet, bis ich ihn samt Wurzel im Haus hatte. Dann musste ich ja auch noch das neue Loch neben dem Haus graben, in das ich ihn dann nach dem Fest wieder einpflanzte.“
„Das liegt nun schon viele Jahre zurück“, sprach er weiter. „Der Baum wuchs gut an und gedieh prächtig. Bald war er größer als das Haus. Wir hatten ihn alle gern. Besonders im Winter war sein dunkles Grün eine wahre Wohltat in all der tristen, grauen Umgebung. Doch nun ist es wohl mit ihm vorbei, “ sagte er traurig. Wir alle wussten, was er meinte.
„Ich muss ihn mir noch mal ansehen. Ich kann es immer noch nicht fassen.“ Damit erhob er sich, und wir alle folgten ihm hinaus.
Vor uns stand die große Tanne. Sie lehnte sich gegen das Haus, ohne es jedoch zu berühren. In ihrer Spitze hatte sich die schwere und große Krone einer benachbarten Buche verfangen, die der Sturm total entwurzelt hatte. Der Stamm der Tanne zeigte einen tiefen Spalt.
„Wir saßen gerade im Wohnzimmer, als es passierte“, sagte mein Nachbar. „Ohne die Tanne wäre die Buche mit voller Wucht auf das Haus gefallen. Dann wäre von unserem Wohnzimmer und wohl auch von uns selber nicht mehr viel übrig geblieben,“
„Sie hat unser Leben gerettet“, sagte seine Frau und schwieg.
Hans Wilhelm